ulrich
bleiker 1914 - 1994
"I ha scho immer gärn pflaschteret"
Ein konkreter Anlass führte Ulrich Bleiker (1914-1994) zu bildnerischem
Gestalten. Aufgewachsen als fünftes von 19 Kindern in einer
Bergbauern-
familie in Wattwil arbeitete Bleiker nach Abschluss seiner Schulzeit
zu-
nächst als Knecht, bevor er ein eigenes kleines Gut bewirtschaftete.
Mit 25 Jahren gab er das Bauern auf und wurde Bauarbeiter, Maurer,
wie er
sich selbst bezeichnete. "I ha scho immer gärn pflaschteret",
pflegte er diesen
Schritt zu begründen. Über die Zeit nach diesem Berufswechsel
ist wenig
bekannt; als 51jähriger aber musste er aus gesundheitlichen
Gründen beruflich
neuerdings umsteigen und arbeitete fortan bis zur Pensionierung
als Fabrik-
arbeiter in Herisau. Im selben Jahr baute er sich ein eigenes kleines
Haus
im toggenburgischen Mogelsberg, schattenhalb an steilem Hang gelegen,
ein paar Meter nur ob der Bahnstation. Und im Jahr darauf verheiratete
sich der
52jährige noch mit der 14 Jahre jüngeren spanischen Gastarbeiterin
Dolores
Martinez. Schon vor diesen sein Leben verändernden Ereignissen
hatte Ulrich
Bleiker einzelne Brunnentröge mit bemalten Zementreliefs verziert,
Alpfahrten
zumeist, die sich über die ganze Troglänge hinzogen. Nun
aber, gewissermassen
als Ersatz fü sein berufsmässiges "Pflaschtere",
wandte er sich immer intensiver
dem bildnerischen Gestalten mit Zement, Draht, Armierungseisen und
allerhand Abfallmaterial zu. Kleine Figuren entstanden, Kühe,
Ziegen, Hunde
oder Katzen, Männer und Frauen. Oft fügte er diese zu
ganzen Szenen
zusammen, zu Alpfahrten auf schmalem Weg, zu Alpfahrtsbergen oder
-türmen,
um die auf spiralig sich hochwindendem Weg Menschen und Tiere in
die Höhe
klettern, oder ein Karussell mit Rossen und Reitern. Bisweilen liess
Bleiker
eine Alpfahrt auch über die ausgestreckten Arme eines Sennen
auf dessen
Kopf steigen oder legte sie einer grossen schwangeren Frau reifenartig
um
den Bauch.
Bis zu Lebensgrösse wuchsen seine Menschen im Lauf der Jahre
und vor allem
nach seiner Pensionierung. Seine Kindheit im Kreis von 18 Geschwistern
hatte ihn geprägt; sein Frauenbild war wesentlich von der Mutter
bestimmt, die
er kaum je anders als in Erwartung oder stillend erlebt hatte. Damit,
ein
Stück weit aber auch mit seiner bäuerlichen Vergangenheit
hing wohl zusammen,
dass seine Frauenfiguren fast immer schwanger sind, die grösseren
ein Kind
im Bauch tragen, und auch seine Tiere, vorallem Kühe, Ziegen
und Schweine,
sind fast immer trächtig. Auch die meist hageren, manchmal
garschmächtigen
Männerfiguren haben ihre Wurzeln wohl in Bleikers Kindheit;
er selber war eher
schwer und in späteren Jahren von einer ruhigen Bedächtigkeit.
Und nochmals
in diesen Kontext gehört, dass die aus steifen Plastikschläuchen
bestehenden
Armierungen seiner grösseren Figuren in einer Schädelöffnung
enden und
im Körperinnern ein ganzes Schlauchsystem bilden. Wird in die
Schlauchöffnung
Wasser geleert, tritt dieses bei den Brüsten der Frauen oder
durch das Glied der
Männer wieder aus.
Vertraut war Bleiker auch das bäuerliche Brauchtum. "Schälleschötter"
gehören
ebenso zu seinen Motiven wie die Alpfahrt, den schwierigen, Kraft
und Ge-
schicklichkeit erfordernden Innerrhoder Männertanz "Mölirad"
hat er mehrfach
dargestellt, und die vielen Tanzpärchen in verschiedensten
Grössen drehen
sich zweifellos zu den Melodien einer Streichmusik oder einer Ländlerkapelle.
Die oft figurenreichen und entsprechend schweren Kopfaufsätze
mancher
Frauen wiederum erinnern an die Silvesterkläuse des Appenzeller
Hinterlandes.
Persönliche Erlebnisse, Besuche im Rapperswiler Kinderzoo und
im Zürcher
Zoo, spiegeln sich in seinen Elefanten, Kängurus, Giraffen
und Kamelen, wobei
seine Phantasie die Wirklichkeit gelegentlich weit hinter sich lässt.
So macht
es ihm nichts aus, fünf, sechs Kinder auf dem Rüssel eines
einzigen Elefanten
reiten zu lassen oder ganze Familien auf irgendein Reittier zu setzen.
Als
Pendant zum "Mölirad" können schliesslich seine
Darstellungen der "Sardana"
gelten, eines spanischen Volkstanzes, den Bleiker bei Ferienaufenthalten
in der spanischen Heimat seiner Frau kennenlernte.
Einzigartig sind in diesem Schaffen einige Beerdigungen: voran der
von einem
Pferd gezogene Leichenwagen mit Kutscher, unmittelbar folgend der
Pfarrer in einem schwarzen Plastiktalar, dahinter ein langer Zug
von
Trauergästen. Sie scheinen dem Wagen mit dem Sarg und der darin
liegenden
Leiche hinterher zu tanzen, wild und ekstatisch, als müssten
sie ihr Leid im
rasenden Wirbel ersticken.
Ulrich Bleiker, 1994 mit achtzig Jahren gestorben, gehörte
mit seinem
eigenwilligen Schaffen ohne Vorbilder zu den bedeutendsten Plastikern
im
Zwischenbereich von art brut und naiver Kunst. Er selber hat sich
allerdings
nie als Künstler verstanden, sondern als Handwerker, dem es
nichts ausmachte,
von Fall zu Fall auch auf Bestellung zu arbeiten. Das Risiko allerdings
trugen
stets die Besteller: Bleiker kopierte sich nie, sondern schuf einfach
eine
weitere Kuh, einen weiteren Engel, ein weiteres Tanzpärchen.
Deren jedes
wieder ein unverwechselbares Unikat wurde.
[quelle:
Peter
und Simone Schaufelberger-Breguet]
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